von Daniela Franz und Karina Falk - 11.05.2025
Der Online-Stammtisch unseres Arbeitskreises Saale-Orla am 6. Mai 2025 stand ganz im Zeichen der Beendigung des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren. Den Gesprächsabend unter dem Titel „6 von 14 – in Erinnerung an die Gefallenen des 2. Weltkrieges“ wollten wir für eine Annäherung an die denkwürdigen Ereignisse nutzen, die viele von uns auch im Zuge der Familien- und Ortsgeschichtsforschung bewegen. Exemplarisch für die vielen verschiedenen und doch oft ähnlichen Schicksale der Menschen, die den Zweiten Weltkrieg miterleben mussten, boten die zusammengetragenen Geschichten der beiden Referentinnen Daniela Franz und Karina Falk einen emotionalen Einblick sowohl in die Biografien einzelner Personen und Familien, als auch ganzer Ortsgemeinschaften.
Ein Schulfoto von 1933 bildete für Daniela Franz, die sich seit Jahren mit der Geschichte des kleinen Ortes Gertewitz im ostthüringischen Saale-Orla-Kreis beschäftigt, den Einstieg in das erste Referat. Das Foto zeigt die 1919 bis 1927 geborenen Schulkinder des Ortes, 13 Mädchen und 14 Jungen. In Gesprächen mit Einwohnern zur Ermittlung der Namen der dargestellten Kinder fiel immer auf, dass die Identität mehrerer Jungen unklar war. Warum, sollte sich bald zeigen. Sie fielen im 2. Weltkrieg, alle noch jung und ledig und hinterließen keine direkten Angehörigen. Die ersten Hinweise ergaben, dass fünf von ihnen nicht aus dem Krieg zurückkehrten, tiefergehende Recherchen ergaben dann noch einen sechsten Verstorbenen. Das Foto zeigt Kinder und Jugendliche, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten und nicht ahnten, dass ein Teil von ihnen nie die Möglichkeit bekommen wird, ihr Leben zu leben.
Zu manchen Namen konnten Informationen zum Verbleib ermittelt werden, beispielsweise mit Hilfe der Datenbanken beim Genealogie-Dienstleister Ancestry und der Gräbersuche des Volksbundes für Deutsche Kriegsgräberfürsorge, so z.B. für den 23-jährigen Heinz Sieber, ein Einzelkind, mit dessen Tod der Name und die Nachfolge einer Bauernfamilie ausgelöscht wurde, die nachweislich seit Mitte des 16. Jahrhunderts im Ort ansässig war. Ein anderer Junge, gerade 19 Jahre alt, starb nur sechs Tage vor Kriegsende in Süddeutschland. Insbesondere bei den Vermissten des 2. Weltkrieges wird die Recherche jedoch deutlich schwieriger. Zu zwei der Jungen gibt es nur minimale Hinweise, dass sie vermisst blieben. Zu einem weiteren der abgebildeten Jungs, Kurt Knoll, konnte niemand mehr etwas sagen; selbst an seinen Namen erinnerte sich so gut wie keiner, denn sie stammten nicht aus dem Ort und die Mutter zog später fort. Diese sechs Jungen machen über die Hälfte der Gertewitzer zehn Gefallenen aus:
Außerdem kehrten folgende Gertewitzer Männer nicht aus dem Krieg zurück:
Am Beispiel eines Gertewitzer Hauses und seiner Bewohner schilderte Daniela Franz die vielfältigen Schicksale der Menschen in Folge des Krieges auf eindrucksvolle Weise. Dort lebte die Mutter von fünf Kindern, ihre drei ältesten Söhne waren eingezogen worden, ebenso ihr Mann. Ab 1944 überschlugen sich die Ereignisse: einer der Söhne, gerade 20 Jahre alt, wurde vermisst, der Verbleib eines weiteren war ungeklärt, so dass die Großmutter des Hauses dies nicht verkraftete und sich auf dem Dachboden erhängte. Anfang 1945 bekam die Frau ihr sechstes Kind, während zum gleichen Zeitpunkt nun auch ihr Mann als vermisst galt.
Kurz darauf mussten geflüchtete und vertriebene Menschen aus den Ostgebieten einquartiert werden. Im Dorf, welches zu Kriegsbeginn 163 Einwohner zählte, kamen allein in den Monaten vor und nach Kriegsende 122 Flüchtlinge und Vertriebene an, größtenteils Kinder und Frauen. In diesem Haus kamen 1945 insgesamt sieben Personen aus drei verschiedenen Familien unter. Darunter befand sich eine verwitwete Mutter zweier Kinder, die nach Misshandlungen auf der Flucht schwanger geworden war.
Die Leben aller Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses waren zutiefst gezeichnet von den verheerenden Folgen und großen Verlusten des Krieges.
Karina Falk beleuchtete in ihrem Referat die Geschehnisse im Nachbarort Oberoppurg. Aus verschiedenen Quellen hat sie Ereignisse und Schicksale zusammengetragen. Überliefert sind Aufzeichnungen des damaligen Bürgermeisters Oswin Franke (1893-1972), Bürgermeister des Ortes von 1931-1945 und 1956-1960, der seine Erinnerungen zum 2. Weltkrieg in Bezug auf seinen Heimatort aufgeschrieben hatte. Er berichtet unter anderem davon, dass zunächst die älteren Jahrgänge (1898 und 1899) zum Wehrdienst eingezogen wurden und es gleich zu Beginn des Krieges eine Pferdemusterung mit der Aushebung von vier Pferden gab.
Wir erfahren weiter, dass bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch im September 1939 in Oberoppurg Unterkünfte für Umquartierte aus dem Saarland bereitgestellt werden mussten. Es waren die ersten ca. 100 Personen, denen bis zum Ende des Krieges 300 weitere folgen sollten. Da Oberoppurg eine eigene Schule hatte, konnten die saarländischen Kinder weiter in den Unterricht gehen. Sie sind auf einem erhaltenen Klassenfoto aus der Zeit zu sehen. Namen sind den Gesichtern nicht mehr zuzuordnen, da sich niemand erinnern kann und Schriftgut aus dieser Zeit fehlt. Dass es Unterlagen gegeben hat, erfahren wir ebenfalls aus den Aufzeichnungen des Bürgermeisters, denn er schildert eindrücklich, welche Formalitäten nötig waren, damit die Verwaltung funktionierte. Von An- und Abmeldungen, Anträgen auf Familienunterhalt und Ausgabe von Lebensmittelkarten in 24-facher Form ist die Rede, ebenso von Kleider-, Seifen-, Kohlen- und Raucherkarten.
Im Bericht wird geschildert, dass auch in der ländlichen Region einige Bomben niedergingen und man beim Aufenthalt im Freien stets wachsam sein musste, z.B. bei der Kartoffelernte auf dem Feld. Die Ankunft der amerikanischen Truppen in den Ort am 16. April 1945 ist ebenfalls vermerkt. Unverzüglich mussten Waffen, Munition sowie die Fotoapparate von der Bewohnerschaft abgegeben werden.
Eine Gedenktafel aus Holz, die in der Oberoppurger Kirche hängt, erinnert an die 17 gefallenen, teils vermissten Soldaten aus dem Ort. Auch die Namen dreier junger Männer von geflüchteten Familien, die eine neue Heimat in Oberoppurg fanden, sind darauf vermerkt. Durch Recherchen in den einschlägigen Datenbanken, wie der Gräbersuche des Volksbundes, sowie in den bei Ancestry online verfügbaren Beständen des Bundesarchivs, vor allem in der Kartei der Verlust- und Grabmeldungen gefallener deutscher Soldaten 1939-1945 (-1948), konnten einige Schicksale bereits näher beleuchtet oder gar geklärt werden. Aber zum Verbleib vieler Soldaten fehlt bis heute jede Spur. Es sind im Einzelnen:
Ein im Ort recht unbekanntes Schicksal dürfte das von Otto Hicketier (1919-1944) sein, der ursprünglich aus Pößneck stammte, zuletzt aber in Oberoppurg wohnte. 1944 wurde er wegen „Fahnenflucht“ verhaftet, vor Gericht gestellt und am 27. März 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet. [Quelle: Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu den Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945, Bd. 8: Thüringen, Frankfurt 2003, S. 225] Im Bestand des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam haben sich Akten dazu erhalten, die über das Online-Archiv der Arolsen Archives digital verfügbar sind.
Oberoppurg gehört zu den Orten, durch die KZ-Häftlinge aus Buchenwald gegen Ende des Krieges auf den sogenannten Todesmärschen getrieben wurden. Das Kirchenbuch [Quelle: Todtenbuch für die Pfarrei Oberoppurg seit dem 1sten Jan. 1848, S.85, Nr. 230-241] und die Ortschronik Oberoppurg von 1999, aber auch andere Quellen berichten davon, dass elf Häftlinge am Ortseingang erschossen und verscharrt wurden. Später wurde auf dem Friedhof des Ortes ein Grab errichtet, in dem sie ihre letzte Ruhestätte fanden, allerdings ohne die Nennung ihrer Namen. Ein Gedenkstein mit einer allgemein gehaltenen Inschrift erinnert heute an die "Opfer des Faschismus". Drei der Opfer konnten laut den Angaben im „Heimatgeschichtlichen Wegweiser zu den Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945, Bd. 8“ identifiziert werden: Rachmul Fiszmann (1920-1945), Karoly Kneller (1919-1945) und Mordka Wilner (1919-1945). Die Namen der erstgenannten finden sich auch in der Datenbank der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Vad Vashem, jedoch ohne Angabe des Todesortes.
Zum Abschluss des Abends las Karina Falk aus den schriftlichen Erinnerungen ihrer Großmutter vor, die Ende Januar 1945 aus ihrer Heimat Niederschlesien mit der Familie bzw. allen Bewohnern des kleinen Dorfes, aus dem sie stammte, fliehen musste. Hermine Wolschendorf, geb. Jülke (1927-2011) erzählte ihrer Enkelin Karina im Jahr 2006 ausführlich von ihren Erlebnissen, die diese aufschrieb und das wertvolle Dokument mit eindrücklichen Schilderungen dankbar aufbewahrt. Es sind die Erinnerungen einer jungen Frau, die während der Flucht 18 Jahre alt wurde und die uns durch eine detaillierte Erzählung einen Eindruck davon vermittelt, mit welchen Gegebenheiten sie und ihre Familie konfrontiert wurden, bis sie schlussendlich in Thüringen ankamen und dort ein neues Zuhause fanden.
Die Karte zeigt die Route, auf der die Familie Jülke von Januar bis September 1945 mit Kastenwagen und Pferdekutsche unterwegs war. An manchen Orten hielt sie sich nur eine Nacht, an anderen mehrere Tage oder gar Wochen auf. In Limbach/Vogtland wohnten sie ab 24. Februar 1945, bevor sie im September nach Thüringen umgesiedelt wurden, weil da mehr Landwirtschaft war und man Pferde brauchte. In der Limbacher Zeit musste der Vater zum Volkssturm, so dass Hermine das Geld für den Unterhalt der Familie verdienen musste. Sie erinnerte sich:
„… So musste ich jetzt etwas Geld verdienen. Wir brauchten Pferdefutter und auch für uns etwas zu Essen. Meistens fuhr ich mit Herrn Anderson zusammen, er hatte einen leichten Gummiwagen und zwei kleine Russenpferde. Wir fuhren für die Fabriken Ware in die umliegenden Städte wie Treuen, Netschkau und Reichenbach aus. Für die Gaststätten habe ich von Greiz Getränke aus der Brauerei geholt. Und für die kleinen Leute Mist und Jauche aufs Feld gefahren. Eine Fahrt habe ich nach Plauen gemacht. Es ging um 4 Uhr morgens los. Um 10 Uhr mussten wir wieder aus der Stadt sein, wegen der Bombenangriffe. Wir holten dort Sachen, die sich die Leute noch aus den Trümmern retten konnten.“
Die beeindruckenden Vorträge haben beispielhaft demonstriert, wie facettenreich die Recherchen zum Zweiten Weltkrieg angegangen werden können. Während die große Weltgeschichte der 1930er und 1940er Jahre in unzähligen Geschichtsbüchern, Fernseh- und Online-Dokumentationen festgehalten ist, sind es doch die "kleinen" Geschichten unserer Vorfahren und Heimatorte, die längst nicht alle erzählt sind. Noch vorhandene Quellen in den Archiven und auf Dachböden warten darauf, entdeckt und entstaubt zu werden. Zeitzeugen werden immer rarer. Deshalb sollen die Leserinnen und Leser dieses Beitrages ausdrücklich ermuntert werden, das dunkle Kapitel deutscher Geschichte nicht ruhen zu lassen, auch wenn die Beschäftigung damit wehtun kann.