Genealogie auf Reisen

von Steffen Mücke - 08.05.2022

Auch wenn nachstehende Geschichte unseren eigentlichen Forschungsbereich verlässt, so möchte ich doch die überraschenden Begegnungen und Funde, welche mir auf meiner Urlaubsreise dorthin begegneten, gern teilen.

Treffpunkt Jena

Um 1900 prosperierten die Jenaer Unternehmen Zeiss und Schott derart, dass auch die Stadt selbst beachtlich schnell anwuchs. So zog es alle meine Urgroßeltern um diese Zeit ins „Paradies“ an der Saale. Der Radius ihrer Herkunft überschritt dabei nicht die 100km-Marke. Einzig meine Urgroßmutter Maria Bange (1889-1958) machte da eine Ausnahme. Vor 10 Jahren versuchte ich der Frage nachzugehen, wie eine junge Frau, schwanger dazu, um 1910 vom fernen Unna nach Jena gelangte. Ein selbst verlegtes Buch zur Familie Bange entstand darauf. Ein Exemplar für alle ihre noch lebenden Nachfahren, immerhin 57 an der Zahl. Die Forschung beruhte in erster Linie auf dem Sammeln von Nachlässen, der Erinnerung der Familienältesten sowie vorliegender Literatur und Fernanfragen an Archive. Was eine Familienurlaubswoche im Sauerland für Überraschungen mit sich brachte – das soll hier in kurzem Abriss Thema sein.

Urgroßmutter Bange

Da der Tod Maria Bange schon 1958 ereilte, lernte keines der Urenkel sie persönlich kennen. Über ihr Leben wurde eher Stillschweigen bewahrt. Nur soviel: Mit 4 verlor sie den Vater, mit 16 die Mutter. Mit 19 wurde sie schwanger, Vater unbekannt. Streng katholisch erzogen, wurde sie vom Bruder des Hauses verwiesen, landete in Jena. Dort bekam Maria mit unserem Urgroßvater, den sie 21jährig heiratete, 7 weitere Kinder, verlor 2 davon im Krieg. Nach dem Tod ihres Mannes wählte sie für sich den Freitod. Ein ordentliches Begräbnis der katholischen Gemeinde wurde ihr daraufhin verwehrt, was dazu führte, dass die in Jena verbliebenen Kinder jene verließen.

Banges in Unna

Das westfälische Unna ist ein unscheinbares Städtchen. Kaum zu glauben, dass es noch vor 200 Jahren Dortmund an Größe glich. 1847 erschien hier der erste Bange-Vorfahre, Marias Großvater, der Schreiner Conrad Bange (1819-1899). Die katholisch ausgeführte Trauung  fand noch in einem kleinen hölzernen Anbau statt. Die Gemeinde begann erst zu wachsen. Der Bergbau ebenso und mit ihm die Zuwanderung. Auch sein Sohn Carl (1847-1893) verdiente sich seinen Lohn als Schreiner. In Unna wurden die Schächte mehr voran als tief getrieben. Beim sogenannten „Teufen“ wurden Schreiner und Zimmerer benötigt, um die Gänge zu stabilisieren. Das langjährige Familienhaus, am Südwall gelegen, wurde 1971 abgerissen. Ein Fund in Form einer alten Anischtskarte lässt sogar die alte Familie bildhaft in Erinnerung bleiben.

Reise ins Sauerland

Die Spuren der Familie Bange zurück in die Vergangenheit führten mich über Brilon nach Hallenberg im Sauerland. So wurde für einen familiären Wochenurlaub das dazwischen liegende Winterberg als Residenz gewählt, bekannt auch durch die nahe Ruhrquelle. Die Reise sollte sich als wahrer genealogischer Glücksfall erweisen. Dem bisherigen Wissensstand nach führte die erste Etappe ins Aa-Tal, vor den Toren Brilons gelegen. Die Banges waren Müller, verschiedene Familienzweige lebten in verschiedenen Mühlen. An der Niederen Aa-Mühle sollte sich ein Bildstock befinden, welcher 1685 dem Ehepaar Johannes (1622-1680) und Margarethe Bange (?-1682) von ihren 10 erwachsenen Kindern gewidmet worden war. Und tatsächlich gab es diesen noch, er wirkte gut erhalten.

Und noch ein Relikt aus alten Zeiten ließ sich, beinahe vollständig eingewachsen, entdecken. Eine 2 Meter hohe “Nepomuk”-Figur aus Sandstein, welche unterhalb der nahen Aa-Brücke gesetzt wurde. Die Legende um ihn und seine Verehrung als Brückenheiliger dürfte bekannt sein.

Brilon – Stadtmuseum und Kumpbrunnen

Vom Aa-Tal führte mich der Weg in die Stadt Brilon hinein, ganz zeitgemäß das Auto nutzend und nicht per Esel, die zu alten Zeiten das städtische Verkehrsbild prägten und derer sich auch die Bange-Müller zum Transport ihres Mahlgutes bedienten. Der Vater des nach Unna auswandernden Conrad lebte hier lange Jahre als Stadtzimmermeister. Brilon wurde über Jahrhunderte mit Quellwasser vom 2 km entfernten Poppenberg versorgt. Über hölzerne, aufwendig mit Hand gebohrte Leitungen, wurde dieses bis zum sogenannten “Kumpbrunnen” auf dem Markt geführt, an welcher Stelle sich die Bewohner dann versorgen konnten. Der Stadtzimmermeister hatte für den Erhalt der Anlage zu sorgen, welche tatsächlich niemals in ihrer langen Geschichte den Dienst versagte.

Der „Zufall“ wollte nun, dass es 1830 zu einer umfassenderen Erneuerung der Anlage kam, mit welcher offiziell Friedrich Bange (1771-1832) beauftragt wurde. Urkunden und Rechnungen darüber im Stadtarchiv sowie ein dabei freigelegtes Brunnenrohr als Ausstellungsobjekt im Museum ließen das Andenken an den Vorfahren lebendig werden. Als dann der Museumsdirektor vom Anlass meiner Reise vor Ort erfuhr, bat er mich, kurz zu warten, um mit einer mir bis dato unbekannten Veröffentlichung über die Mühlen im Aa-Tal zurückzukehren. Dabei meinte er, dass es das noch einzige Exemplar hier im Museum sei. Er überließe es mir aber gern, als Geschenk des Hauses. So fand auch dieser Ausflug an eine frühe Stätte der Familie Bange einen überraschenden Abschluss.

Hallenberg – Zwischenstation

Den genealogischen Kreuzungspunkt in Hallenberg bildet der Pfarrer Johannes Bange (1555-1621), welcher im Ort geboren wurde und später nach Allendorf ging. Zu ihm zurück, so heißt es, führen alle noch existierenden Bange-Linien. Verheiratet war er mit Elisabeth Kornmann (1558-1624), über deren Vater Georg (1535-1598) es interessante Aspekte in der Aszendenz (in verschiedene adlige Häuser) wie auch Deszendenz (u.a. zu J. W. v. Goethe) gibt.

Dank eines umfangreichen und vor allem überaus freundlich betreuten Stadtarchivs konnte ich recht schnell (es gibt gedruckte Regesten!) die Originalurkunden des 15. und 16 Jahrhunderts in Augenschein nehmen wie auch kopieren. Im Ort findet sich noch heute eine Bangestraße und neben dem Kirchportal erinnert eine riesige, gusseiserne Tafel an den letzten „Bangen“ im Ort, den Bürgermeister Merten B., welcher 1670 verstarb.

Die erste namentliche Erwähnung erfährt übrigens ein Johann Bange, welcher 1462 als Schöffe im Ort wirkte. Vorher findet man nur allgemeine Hinweise auf „die Pangen“, was wohl synonym für “die Ängstlichen” betrachtet werden darf. Laut einer alten Chronik wurde die Familie, die damals noch nicht so hieß, im Jahre 1247 bei der Neubefestigung der Stadt Hallenberg eingebürgert. Sie sollen zuvor auf dem „Hilbringhus“, einem Einzelgehöft direkt an einem Grenz-Hag zu Hessen liegend, gelebt haben. Dort in der Nähe soll eine Schlucht zwischen den bewaldeten Bergen hinab geführt haben, welche über die Zeit immer der „Bange-Grund“ genannt wurde. Laut Stadtarchivar „gleich hinter Braunshausen“.

Am Ursprungsort angekommen

Allein durch das Gelände streifend, fand ich nach Stunden tatsächlich jenen Ort, an dem das alte „Hilbringhus“ gestanden haben soll. Der ansässige Heimatverein hatte hier inmitten riesiger Brombeerhecken eine hölzerne Tafel als Hinweis errichtet. Der „Bange-Grund“ jedoch blieb mir verschlossen. Nach Rat im naheliegenden Braunshausen suchend, wurde ich an den Dorfältesten verwiesen. Und so stieg kurze Zeit später ein 93jähriger in das Auto eines fremden – und sächselnden – Mannes und führte jenen direkt zum Ursprungsort der Familie Bange. Auf einer Anhöhe war auch hier eine Erinnerungstafel angebracht – mitten im Niemandsland. Ich war am Ursprungsort der Familie meiner Urgroßmutter angekommen, am Beginn einer beinahe 800jährigen belegten und dokumentierten Familiengeschichte. Dies alles hätte ich mir bei Antritt der Urlaubsreise nicht vorstellen können. Umso größer waren Überraschung, Freude und Erkenntnis.