Warum ich nach den Stasi-Unterlagen meines Opas suche

von Daniela Warnken - 06.01.2022

Seit etwa anderthalb Jahren interessiere ich mich für die Familienforschung. Dabei bin ich nicht gerade im typischen Alter dafür. Mit meinen siebenunddreißig Jahren, drei kleinen Kindern und meinem Job habe nicht viel Zeit für mein neues Hobby. Dennoch ist es mir wichtig, die Vergangenheit meiner Familie zu erforschen. Da gibt es zum Beispiel meinen deutschbaltischen Ur-Uropa Emil Katterfeld (1868-1929), der in Libau/Liepāja eine homöopathische Apotheke führte; oder meine Uroma Katharina Wakenhut (1901-1992), die Gedichte schrieb und ein Tagebuch führte und mir deshalb sehr vertraut geworden ist.

Mein größter Antrieb zur Familienforschung ist aber das Schicksal meines Opas mütterlicherseits, Richard Wakenhut.

Er ist vor 15 Jahren gestorben, doch ich sehe ihn noch, wie er mit seiner ledernen Schirmmütze vor mir steht und schelmisch, aber liebevoll grinst.

Geboren wurde er 1929 in der lettischen Kleinstadt Hasenpoth/Aizpute. Doch über seine Kindheit in Lettland möchte ich hier nicht berichten. Vielmehr soll es um seine Zeit in einem anderen Land gehen. 1941 kam mein Opa mit seiner Familie als sogenannter Balten-Nachumsiedler nach Deutschland. Die Nachumsiedler wurden im „Altreich“ untergebracht. Und so landete mein Opa im mecklenburgischen Warin, das ein paar Jahre nach dem Krieg zur DDR gehören sollte.

Wenn ich vom Schicksal meines Opas erzähle, muss ich entscheiden, wo ich anfange. Soll ich mit dem Erntefest beginnen, das er mit einigen Freunden besuchte – und das mit einem Handgemenge endete? Oder doch lieber mit der DDR-Geschichte, denn das, was mit meinem Opa passierte, hat einen politischen Hintergrund. Es ist wichtig zu wissen, dass in der DDR gerade die Kollektivierung der Landwirtschaft anlief; Bauern wurden aufgerufen, sich mit ihrer Arbeitskraft und ihrem Grund und Boden den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) anzuschließen.

Mein Opa war kein Bauer; auch niemand sonst in der Familie. Mein Opa war einfach ein junger Mann, dreiundzwanzig Jahre alt, der als Elektroschweißer hart arbeitete und ansonsten gern in der Natur unterwegs war. Er liebte es, Kajak zu fahren und war in der Boxsparte des ortsansässigen Sportvereins, BSG Traktor Warin, aktiv. Auch hatte er eine Freundin. Es gibt ein Foto, das die beiden zusammen am Strand zeigt: Sie liegen im Gras, in verliebter Einigkeit umschlungen. Sicherlich hatten sie Träume und Wünsche für die Zukunft.

Doch dann kam dieser eine Tag, ein Samstag im Oktober 1952, der alles verändern sollte. Es war der Tag, an dem mein Opa mit einigen Freunden aus der Boxsparte ein Erntefest besuchte, das zu ihrem Unglück einer geschlossenen Gesellschaft vorbehalten war. Im Verlauf des Abends kam es zu einem Handgemenge und jemand brach sich das Bein.

Sieben junge Männer waren es, die danach aus ihrem Alltag gerissen wurden. Sieben junge Männer wurden erst zu Unruhestiftern, dann sogar zu Terroristen erklärt. Sie würden die Bevölkerung von Warin und Umgebung in Angst und Schrecken versetzten, hieß es. Sie hätten Waffen im Wald versteckt; mein Opa hätte vorgehabt, die Waffen gegen Funktionäre einzusetzen.

Der große Schauprozess, der nach etwa einem Monat Untersuchungshaft geführt wurde, dauerte zwei Tage. 500 geladene Gäste waren anwesend. Für alle, die nicht im Saal dabei waren, wurde die Verhandlung über Lautsprecher in die ganze Stadt übertragen. So verpasste niemand den Urteilsspruch. Angeklagt wegen Boykotthetze[1] wurde mein Opa zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Ebenso erhielten seine Freunde hohe Zuchthausstrafen. Über den „Prozess gegen die Wariner Boxer“ berichteten auch die Zeitungen: „70 Jahre Zuchthaus für Terrorbande“ und „Sie erhielten die gerechte Strafe“, titelten die Ostsee-Zeitung und der Illustrierte Boxring sie.

Jetzt, fast 70 Jahre nach dem Urteilsspruch, möchte ich die Hintergründe verstehen. Ich möchte verstehen, wer für die Verhaftung meines Opas und seine Verurteilung verantwortlich war. Wer konstruierte die Anklage? Er war unschuldig gewesen; sein Geständnis und das seiner Freunde waren unter Folter erpresst. Versteckte Waffen im Wald gab es nicht, nur ein abgebrochenes Seitengewehr, das benutzt wurde, um für die Ziege im Stall die Rüben zu hacken.

Hilde Benjamin, die spätere DDR-Justizministerin, soll am Prozess gegen meinen Opa beteiligt gewesen sein. Mancher kennt sie unter dem Namen „die rote Hilde“, weil sie in den Anfangsjahren der DDR auch Todesurteile ausgesprochen hatte.

Es gibt viel Schriftverkehr, der aus dieser Zeit aufgehoben wurde – und damit viel Stoff für mich zum Entdecken und Auswerten. Es gibt sogar ein Interview, das ich vor ca. 20 Jahren einmal mit meinem Opa, noch in jugendlicher Naivität, geführt hatte. Aber wie es in der Ahnenforschung so ist, es geht um jedes noch so kleine Puzzlestück. Ich möchte alles wissen, was es noch zu wissen gibt. Daher stellte ich vor anderthalb Jahren einen Antrag bei der Stasi-Unterlagebehörde, die heute zum Bundesarchiv gehört. Da ich als Enkelin anfragte, musste ich ein begründetes Interesse nachweisen, aber das ging recht unkompliziert.

Schon nach kurzer Zeit wurde mir mitgeteilt, dass Akten vorhanden seien. Doch ich wurde um Geduld gebeten. Nach allem, was ich weiß, kann es bis zu 2 Jahre dauern, bis man Einsicht in die Akten bekommt. Gerade wenn viel gefunden wird, dauert es lange, denn jedes Dokument wird vorher gesichtet und Namen werden geschwärzt.

Für den Moment muss ich mich also gedulden. Aber ich habe noch das Interview mit meinem Opa von damals. Es ist so etwas wie ein Zeitzeugengespräch. In einer Welt, in der immer mehr Zeitzeugen der Kriegs- und Nachkriegsjahre verschwinden, möchte ich dieses Interview hier allen Interessierten zur Verfügung stellen.

Eine Vorbemerkung sei noch gemacht: Seit 1995 gilt mein Opa als rehabilitiert, und damit offiziell als unschuldig.

Interview mit meinem Opa, 2002

Ich: Du erinnerst dich sicher noch an die alten DDR-Zeiten. War das Leben damals besser als jetzt?
Opa: In der Hinsicht auf Sicherheit war es besser.

Aber du warst damals im Gefängnis…
Ja, es mussten welche gefunden werden, die schuldig waren [Anm.: am Widerstand der Bauern]. Damals hat die DDR die Kleinbauern in die LPG zwingen wollen. Aber die Kleinbauern wollten das nicht und dann haben die das so dargestellt, als wenn ich Unruhe gestiftet hätte.

Aber warum gerade du?
Ich bin mit Freunden zu einem Vergnügen gegangen – das war ein Erntefest. Verstehst du? Wir waren ja nicht geladen. Aber da nichts los war im Dorf, sind wir trotzdem hingegangen. Dann kam der Bauernvorsitzende der LPG und hat uns des Hauses verwiesen. Daraufhin sind wir gegangen. Ich bin mit Neumann [Anm.: einer seiner Freunde] die Treppe runter und habe gesehen, dass welche von der LPG meinen Bruder Wolf festhalten wollten. Aber durch den Ruck ist der LPG-Mann von der Treppe gefallen und hat sich das Bein gebrochen. Wir sind nach Hause gegangen.
Am nächsten Tag wurden wir von der Polizei verhaftet und in Sternberg eingesperrt. Wir sollen an einer Schlägerei beteiligt gewesen sein – dabei haben wir überhaupt nicht geschlagen! Ich soll der Rädelsführer gewesen sein. Ich war der Anstifter. Einer muss ja Rädelsführer sein. Also haben sie mich dazu erkoren.

Wie ging es weiter?
Nach einer Nacht in Sternberg haben sie mich wieder laufen lassen. Ich bin gleich zur Arbeit gegangen. Aber am nächsten Tag haben sie uns wieder verhaftet. Dann wurde ich in Sternberg eingeliefert und am nächsten Tag in einen PKW geladen. Es ging aus Sternberg raus. In so einen Bretterzaun rein. Und da stand eine Minna. Weißt du, was eine Minna ist?

Nein.
Das ist ein Gefangenentransporter. Mit dem wurden wir nach Schwerin gebracht.

Wie sieht so ein Gefangenentransporter aus?
Du bist gefesselt und kannst bloß sitzen, aber das ist ganz eng da. Und du kannst keinen sehen, da jeder in einer Einzelkabine sitzt. Wir wussten nicht, wo es hinging. Das hat uns keiner gesagt.

Wann hast du erfahren, dass du in Schwerin warst?
Ich habe aus meinem Zellenfenster geguckt und das Schweriner Schloss gesehen.

Was war das für ein Gefängnis in Schwerin?
Das war von der Staatsicherheit.

Wusste denn deine Familie, wo du warst?
Meine Mutter wusste nicht, wo ich war.

Wie war der Alltag im Gefängnis?
Ich wurde Tag und Nacht vernommen. Tag und Nacht bewusst vernommen. Sie haben mich geschlagen und gefragt, was ich über die Deutsche Demokratische Republik denke.

Was hast du geantwortet?
Ich habe gesagt, was ich dachte. Mir ging‘s ja nicht schlecht in diesem Land.

Warst du allein in der Zelle?
Da war ich ganz allein. Ich durfte mit den anderen Gefangenen nicht reden. Freigang oder so was gab es nicht. Aber einmal, als ich von der Vernehmung zurückkam, war bei mir in der Zelle einer drin … Der sollte mich aushorchen.

Wie lange warst du in Schwerin?
Nach drei Wochen wurde ich abgeurteilt. Das war ein großer Schauprozess, der sollte viele Menschen erreichen, damit sie ja alle kuschen. Damit sie ja in die LPG reingehen.

Wie sah dein Urteil aus?
Ich wurde zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Was haben sie dir vorgeworfen?
Ich soll ein Terrorist gewesen sein. Dabei war ich friedlich wie jeder andere. Ich habe gar nicht daran gedacht, Terror gegen die DDR zu machen.

Wie ging es weiter?
Ich bin nach Bützow gebracht worden. Dort habe ich eine Armbinde bekommen. Rot – für politisch. Wir saßen mit acht Mann in einer Zelle. Aus Zeitungspapieren haben wir uns ein Schachspiel gebastelt. Die schwarzen Felder haben wir mit dem Dreck von unseren Schuhen gemalt. Wegen guter Führung wurde ich nach fünf Jahren frei gelassen.

Wie war das als du nach Hause gekommen bist?
Meine Mutter hat sich gefreut. Die anderen haben geguckt, dass ich wieder da bin; der Terrorist wieder da ist. Ich bin wieder zur Arbeit gegangen.

Wie fühlst du dich, wenn du zurückdenkst?
Das ist schon lange her. Die meisten sind bestimmt schon tot. Aber unfair behandelt fühle ich mich trotzdem.

Ende des Interviews

Schlussbemerkung

Dass mein Opa hier lediglich davon spricht, sich „unfair behandelt“ zu fühlen, ist Ausdruck seiner stets präsenten Bescheidenheit. Ich selbst forsche jetzt weiter, weil es eben nicht nur eine unfaire Behandlung war, sondern ein grausames Stück Geschichte.

Ich möchte seinen Fall vollumfänglich aufklären. Mein Opa selbst hat nie Einsicht in seine Stasi-Akten genommen. Das kann ich verstehen. Zu schmerzhaft wäre die Auseinandersetzung möglicherweise gewesen. Manchmal müssen eben ein paar Generationen vergehen, bis jemand mit genügend zeitlichem Abstand folgt, der es wagt, sich mit den Wunden der Vergangenheit zu beschäftigen.


[1] Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 2 der Verfassung der DDR in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive Nummer 38 Abschnitt II Artikel III, A III

Auszug Instagam