Richard Stumpf und der 17. Juni 1953 in Heiligenstadt

Richard Stumpf (1927–2007) - Gewerkschafter, Verfolgter des DDR-Regimes

von Matthias Heinevetter - 17.06.2023

Am 17. Juni 1953 protestieren etwa eine Million Menschen in Ostberlin und in der DDR weitestgehend friedlich gegen die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse. Dabei äußern sie ihre Unzufriedenheit und ihren Unmut über wachsende soziale Probleme, Repression und Bevormundung durch den DDR-Staat und die SED-Führung sowie die Staatsorgane. Der rigide Führungsanspruch der SED reichte in alle gesellschaftlichen Bereiche, bis in die letzten Betriebsstätten und auch in das Gewerkschaftswesen hinein (FDGB). Von dieser Protest-Situation ist die SED-Führung in Berlin vollkommen überfordert. Die Sowjetunion unter dem noch nicht gefestigten Regime des Regierungschefs Georgi M. Malenkow und des Parteisekretärs Nikita Chruschtschow, nach Stalins Tod im März 1953, reagiert mit Härte - sie verhängt als noch de facto Besatzungsmacht den Ausnahmezustand. Es wird massiv Militär eingesetzt, Volkspolizei und Staatssicherheit schlagen den Aufstand brutal nieder, es sind Opfer zu beklagen. Es kommt zu Verhaftungs- und Anklagewellen bis ins Jahr 1954 hinein. (vgl. Lebendiges Museum online)


Ein Zeitzeuge und persönliches Beispiel dieser Situation ist für das Eichsfeld und Heiligenstadt Richard Stumpf. Er war Vorsitzender der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) im Heiligenstädter Kleinmetallwarenwerk (MEWA) und hatte den Mut, bei einer Betriebsversammlung anlässlich des 17. Juni 1953 zur verlogenen DDR-Propaganda Stellung zu beziehen. Die Belegschaft spendete begeistert Beifall, doch brachte ihm seine mutige Rede ein Jahr Gefängnisstrafe ein. Wenn man von einer „Kneipenrevolution“ in Großbartloff und unbedeutenden Unmutsäußerungen absieht, war Richard Stumpf im Eichsfeld der Einzige, der es wagte, öffentlich zum 17. Juni Stellung zu beziehen und Konsequenzen einzufordern. Eine gewisse Widerspenstigkeit zeigte die Betriebsbelegschaft des Kleinmetallwarenwerkes, weil sie trotz erheblicher staatlicher Einflussnahme hinter ihrem Kollegen stand.

Der gleichnamige Vater Richard Stumpfs (1892-1958) war von Beruf Zinngießer, hatte lange bei der Kaiserlichen Marine, auch während des 1. Weltkriegs (1914-1918), gedient und wurde durch seine Schriften über Themen zur Kriegsmarine und deren Versagen im 1. Weltkrieg bekannt - er war Sachverständiger vor dem Untersuchungsausschuss der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages (1919–1928). In den Zeiten der Wirtschaftskrise um 1928 war Stumpf arbeitslos geworden, fand über die katholische Kolpingbewegung schließlich 1931 in Heiligenstadt eine Anstellung als Herbergsvater im Mainzer Hof in Heiligenstadt, einer Einrichtung des Kolpingwerks in der Stubenstraße. Hier im Mainzer Hof wohnte auch die Familie.

Die Vorgeschichte bis 1952

Richard Stumpf Junior war zwar 1927 in Nürnberg geboren, kam jedoch als Dreijähriger nach Heiligenstadt und wuchs im Umfeld der Kolpingfamilie und der Propsteigemeinde „St. Marien“ auf. In dieser Pfarrei wurde er in den 1930-Jahren Messdiener, später war er in der Pfarrjugend aktiv. Er besuchte von 1934 bis 1942 die Volksschule und begann am 01.04.1942 eine Lehre als Feinmechaniker bei der renommierten Firma Carl Zeiss - Lehrwerkstatt - in Heiligenstadt. Seine Facharbeiterprüfung musste er wegen der bevorstehenden Einberufung zum Wehrdienst schon im zweiten Lehrjahr, im Herbst 1944, ablegen. Der Facharbeiterbrief sowie das Prüfungszeugnis ist auf den 31.12.1944 datiert. Eine Tätigkeit in seinem erlernten Beruf konnte er jedoch nicht aufnehmen, da unmittelbar nach dem 17. Geburtstag am 21. Dezember, wegen der Kriegslage, der Gestellungsbefehl zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eintraf. Unmittelbar nach seinem 17. Geburtstag, noch in den letzten Dezembertagen 1944, wurde er zum Reichsarbeitsdienst (RAD) einberufen und nach einer verkürzten Tätigkeit im Frühjahr 1945 zur Kriegsmarine eingezogen. Eine reguläre Ausbildung konnte kaum noch stattfinden, sein letzter Dienstgrad war Matrose.

Nach dem Kriegsende im Mai 1945 geriet Richard Stumpf in kanadische Gefangenschaft, aus der er am 04.07.1945 entlassen wurde. Das diesbezügliche Dokument der amerikanischen Militärregierung in Fulda ist vom 29.08.1945 datiert. Von dort aus begab sich Stumpf zurück nach Heiligenstadt. Zunächst hatte er, wie er in seinem Lebenslauf 1948 schreibt, die Hoffnung, wieder bei Zeiss arbeiten zu können, was sich jedoch als nicht realisierbar erwies. Die Zeiss-Werkstätten waren inzwischen aufgelöst. Auch die Absicht, am Zeiss-Technikum zu studieren, zerschlug sich wegen der Demontage der Zeiss-Werke in Jena durch die amerikanische Besatzungsmacht bis zum 05.07.1945 (dann wechselte die Besatzungsmacht). Daraufhin trat er, da dringend Arbeit suchend, als Werkzeugschlosser – Schnittmacher bei der Firma Engelmann & Co. seine Arbeitsstelle an, dort, wo örtlich in Heiligenstadt die Zeiss-Werkstätten angesiedelt gewesen waren. Mit dem Betriebsleiter Siegfried Schmauser scheint er ein gutes Einvernehmen gehabt zu haben. Dieser war seit 1948 auch Vorsitzender der CDU in Heiligenstadt. Doch 1949 musste Schmauser aus der DDR flüchten.

Bereits Ende Juni 1945 fand im Mainzer Hof unter Leitung von Hugo Dornhofer die Gründungsversammlung der CDU statt. Richard Stumpf sen. war Gründungsmitglied, der Sohn trat am 07.03.1946 bei. Es folgten Mitgliedschaften beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF). Bei letzterer wurde er sogar in den Kreisvorstand gewählt. 

Als am 14. August 1946 in Heiligenstadt zwei Plakate mit der Aufschrift: „Religion ist Opium fürs Volk. So sagt K. Marx, der Begründer des neuen Sozialismus“ prangten, wurde von der Staatsmacht die sehr aktive Jugendgruppe der Propsteigemeinde verdächtigt. 11 Jungmänner kamen ins Visier der Ermittler. Richard Stumpf und seine Freunde Karl Trost, Rudi Ohrenschall und Pat Franke wurden drei Tage inhaftiert und verhört. Sie waren jedoch nicht für die Plakataktion verantwortlich.

Schon im Jahre 1946 war er Mitglied des Betriebsrates und des Landesjugendausschusses geworden. 1947 nahm er an mehreren Lehrgängen des FDGB in (Jena-) Lobeda teil. Anschließend wurde er im Herbst 1948 als Sekretär der Industriegewerkschaft Metall im Kreise Heiligenstadt übernommen. In dieser Funktion war er fast ein Jahr tätig, beendete die Tätigkeit jedoch auf eigenen Wunsch. Es kann mit einiger Sicherheit angenommen werden, dass dies aufgrund des zunehmenden politischen Drucks auf Nicht-SED-Mitglieder geschah, denn 1948 mussten mehrere führende demokratisch gesinnte CDU-Mitglieder auch im Landkreis Eichsfeld und in Heiligenstadt ihre Positionen zwangsweise verlassen.

Gleichzeitig war Stumpf nebenberuflich kurz nach Kriegsende 1946/1947 als Gitarrist bei einer Kapelle in Heiligenstadt tätig. Im Jahre 1946 ging Richard Stumpf für etwa 6 Wochen illegal nach Westdeutschland, wo er wegen unbefugten Grenzübertritts 14 Tage inhaftiert war. Als ehemalige Kriegsteilnehmer aus Dankbarkeit für eine glückliche Heimkehr im September 1948 am Dünberg ein Großkreuz (das Heiligenstädter Dünkreuz) errichteten, war Stumpf einer der Hauptakteure. Richard Stumpf war in der Pfarrgemeinde Sankt Marien in der Pfarrjugend fest integriert und sehr aktiv. Er hatte unter dem neuen Propst und Bischöflichen Kommissarius Josef Streb (1893-1976), der von 1945 bis 1967 wirkte, wichtigen Anteil an einigen spektakulären Aktionen (u.a. 1952 Beleuchtung der Kirchtüme mit Schriftzug "Friede auf Erden" bzw. Ostern 1952 großes Lichtkreuz auf dem Nordturm).

Im Jahre 1951 versuchte Richard Stumpf bei der Firma Engelmann & Co., die inzwischen volkseigen geworden war und nun als VEB MEWA (Metallwarenwerk) firmierte, wieder beschäftigt zu werden, was ihm jedoch in dieser Zeit nicht gelang. Daraufhin ging er dringend Arbeit suchend nochmals illegal nach Westdeutschland und arbeitete in Duderstadt in einem Reißverschlusswerk. Von dort aus ergab sich die Möglichkeit zur Tätigkeit als Musiker im irischen Zirkus "Fosset". Die Fahrtroute führte über Ostende, Dover, Dublin nach Irland. In Irland blieb Stumpf letztlich jedoch nur kurze Zeit und kehrte am 15.09.1951 in die DDR zurück. Hier konnte er endlich am 16.10.1952 erneut eine Tätigkeit im VEB MEWA, Heiligenstadt, aufnehmen. Noch 1952 wurde er dort Brigadier in der Stanzerei und im Jahre 1953 übernahm er die Tätigkeit des BGL-Vorsitzenden. Mit dem Ziel, die Zulassungsvoraussetzungen zum technischen Studium zu erreichen, nahm er an Kursen der Volkshochschule teil und legte im November 1953 seine Prüfung ab. Dies berechtigte Stumpf, ein Fernstudium an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt zu absolvieren. In seiner Arbeitsstelle wurde Richard Stumpf mehrmals mit Prämien bedacht, zwei von ihm eingereichte Verbesserungsvorschläge im Neuererwesen wurden anerkannt und prämiert.

Der 18. Juni 1953 im VEB MEWA in Heiligenstadt

Am Abend des 17. Juni 1953 verfolgte Richard Stumpf die Meldungen im Westdeutschen Rundfunk und war so über die Aufstände in der DDR grob informiert. Am 18. Juni 1953 wurde „von oben“ im VEB Kleinmetallwarenwerk (ehemals Hugo Engelmann & Co. KG) eine Betriebsversammlung anberaumt. Der Vorsitzende des Rates des Kreises, Willi Gleissner, schilderte im brechend vollen Versammlungsraum die „vom Westen inszenierten“ Vorgänge und die aktuelle Lage nach der Proklamierung des „Neuen Kurses". Die Regierung, so räumte Gleissner ein, habe Fehler eingestanden, jedoch für deren Beseitigung schon Maßnahmen getroffen. Dann forderte der Funktionär zur Meinungsäußerung auf. Richard Stumpf fühlte sich als BGL-Vorsitzender verpflichtet, das Schweigen als Erster zu brechen. Der Gewerkschafter kritisierte, dass es nicht damit getan sei, Fehler einzusehen und zu korrigieren. Die Verantwortlichen müssten abgelöst werden. Laut Sitzungsprotokoll folgte von den Kollegen „orkanartiger Beifall.“ Anschließend forderte Gleissner den Stellvertreter des Parteisekretärs der Betriebsparteiorganisation auf, Stellung zu beziehen. Doch der äußerte zum Missfallen Gleissners: ,,Jawohl, es ist richtig, was der Vorsitzende der BGL gesagt hat, man müsste die Menschen ablösen, die Fehler gemacht haben." Die Solidarität der Kollegen machte den Plan der SED-Funktionäre zunichte, dass die Belegschaft selbst die Bestrafung des BGL-Vorsitzenden fordere.

Aber hinter den Kulissen wurden bereits die Fäden gezogen, um im „Fall Stumpf“ ein Exempel zu statuieren. Während der SED-Mann in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wurde, holten zwei Beamte in Zivil Richard Stumpf Monate später, am 18. Januar 1954, kurz vor 22 Uhr, „zu einer Besprechung“ aus seiner Wohnung ab und überführten ihn in die Volkspolizei-Dienststelle in der Ägidienstraße. Den Grund erfuhr er nicht, niemand beantwortete die Fragen des bang Wartenden. Nach zwei Stunden kam er in das Heiligenstädter Gefängnis, das sich im heutigem Alten Rathaus befand. Stumpf kannte es, weil er hier schon 1946 drei Tage inhaftiert war. Beim Einkassieren der persönlichen Dinge, auch des Inhalts der Brieftasche, war der Verhaftete herzlich froh, dass seine Frau rechtzeitig eine Fahrkarte nach Berlin an sich genommen hatte. Am nächsten Tag wollte er sich nämlich in den Westen absetzen.

Gerichtsverhandlung 1954 - Haft - Gefängnis

Erst am 20. Januar 1954 wurde von Kreisgerichtsdirektor Truppat der Haftbefehl unterschrieben. Stumpf wird darin „beschuldigt am 18.06.1953 in Heiligenstadt den Frieden des deutschen Volkes dadurch gefährdet zu haben, dass er Hetze betrieb, indem er in einer Belegschaftsversammlung des VEB MEWA Heiligenstadt forderte, dass die Funktionäre der Regierung der DDR sowie allgemein die Funktionäre ihre Fehler einsehen und ihre Posten und Ämter zur Verfügung stellen. Verbrechen nach Art. 6 der Verfassung der DDR KD 38 Art. III AIII.“ Weiter heißt es: „Er ist dieser Straftat dringend verdächtig und da ein Verbrechen Gegenstand der Untersuchung bildet“, bestehe Fluchtverdacht und wegen noch anzustellender weiterer Ermittlungen auch Verdunklungsgefahr. Drei Monate währte die Haft in der Ratsgasse zu Heiligenstadt. Sie war im Gegensatz zu dem, was folgte, noch „erträglich“. Im April 1954 wurde Stumpf für sechs Wochen in die Haftanstalt Weimar verlegt. Sein Fall sollte vor dem Bezirksgericht Erfurt verhandelt werden. Der Heiligenstädter kam in eine Einzelzelle. Am 13. April 1954 war die Verhandlung. Die Aussagen der geladenen Zeugen aus dem VEB Kleinmetallwarenwerk in Heiligenstadt fielen jedoch allesamt zu Gunsten des Gewerkschafts-Vorsitzenden aus. Für das Verhalten seiner Kollegen war Stumpf zeitlebens dankbar.

In der Strafvollzugsanstalt Gotha begann für Stumpf der Gefängnisalltag – ohne jede Arbeit –  was den Inhaftierten stark belastete. Die Haftbedingungen als politischer Häftling müssen nach heutigen Begriffen menschenunwürdig gewesen sein, kleinste Einzelzellen zum Beispiel, rigoroser Kasernenhofkommandoton und kaum vorstellbare “Kasernenmethoden” und Schikanen der schlechtesten Art (u.a. nachts geweckt werden, komplett entkleiden, Untersuchung und Wechsel in eine andere Zelle) – der Mensch sollte zum Nichts degradiert werden. Zu enge Kontakte der Häftlinge untereinander waren untersagt. Besonders die ständigen Kontrollen belasteten ihn. Am 03.08.1954 wurde Richard Stumpf  bis zu seiner Entlassung im berüchtigten Stasi-Gefängnis der Erfurter Andreasstraße inhaftiert.

Dennoch betont Richard Stumpf in seiner Erinnerung immer wieder, dass einzelne Funktionsträger hinter ihrer offiziellen “Funktionsmaske” noch einen gewissen Rest von Menschlichkeit besaßen. Hier ist von Stumpf selbst ein Zeugnis der Menschlichkeit in dunkelster Zeit und unmenschlicher Umgebung überliefert. Zum Heiligen Abend 1954, um Mitternacht, machte es ein Bediensteter des Wachpersonals unter erheblicher Eigengefahr möglich, dass Stumpf im Hof des Gefängnisses die berühmte Gloriosa-Glocke des Erfurter Domes einige Minuten direkt hören konnte.

Nachgetragen sei an dieser Stelle folgende Begebenheit: 50 Jahre später, im Juli 2004, war ein 8 cm langer Haarriss in einer der größten freischwingenden Glocken des Mittelalters festgestellt worden. Damit musste die 500 Jahre alte Gloriosa (1) mit ihren 11,5 Tonnen Gewicht einer dringenden Reparatur unterzogen werden. Die Glocke wurde erstmalig in einer äußerst komplizierten Aktion per Großkran aus dem Turm des Erfurter Mariendomes gehoben, um sie zur Reparatur nach Nördlingen, unweit von Oberkochen, zu bringen. Richard Stumpf nutzte diese unerwartbare Gelegenheit, der Gloriosa einmal direkt und unmittelbar zu begegnen, was ihn 50 Jahre nach dem Weihnachtstag 1954 in der Haft im Stasi-Gefängnis Erfurter Andreasstraße emotional sehr berührte. 

Zwischenzeitlich gab es in der Haftzeit 1954/1955 immer wieder Bemühungen, sowohl durch den Rechtsanwalt Richard Stumpfs, als auch von Betriebsangehörigen der MEWA und ihm selbst mit dem Mittel eines Gnadengesuchs, mit Blick auf seine Familie und die zwei sehr kleinen Kinder eine vorzeitige Haftentlassung zu erreichen. Die Bemühungen waren ohne Erfolg. Es sei nachgetragen, dass auch sein Vater Richard  sen. (1892–1958), geb. in Gräfenberg/Bayern, gest. in Heiligenstadt, Herbergsvater im Kolpinghaus, Mitbegründer der CDU in Heiligenstadt, von der Staatssicherheit in Haft genommen wurde. Vom 23. März 1954 bis zum 26. Juni 1954 war er eingesperrt und verhört worden. Die ihm vorgeworfenen Beschuldigungen konnten in der Untersuchung jedoch nicht bestätigt werden.

Die Anklage hatte auf Verbrechen nach Artikel 6 Absatz II der Verfassung der DDR und Kontrollratsdirektive 38 Abschnitt II Artikel III A III gelautet. Der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts sah dann aber doch keine gegen die Verfassung gerichtete „Boykotthetze“ in den Äußerungen Stumpfs. Aber als erfüllt sah das Gericht die „Tatbestandsmerkmale der Kontrollratsdirektive 38“ an. Der Angeklagte habe am 17. Juni 1953 die Nachrichten über den westdeutschen „Hetzsender“ gehört und die „Hetzsendung“ seinem Diskussionsbeitrag zur Grundlage gelegt. Mit seinen Forderungen habe er „tendenziöse Gerüchte verbreitet, die geeignet waren, den Frieden des deutschen Volkes und der Welt zu gefährden.“ Im Namen des Deutschen Volkes wurde Stumpf zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt. Dem Urteil waren „Sühnemaßnahmen“ hinzugefügt. So hätte Stumpf unter anderem kein öffentliches Amt bekleiden dürfen und keine aus öffentlichen Mitteln zu zahlende Pension beanspruchen können. Er verlor das aktive und passive Wahlrecht und unterlag Wohnraum- und Aufenthaltsbeschränkungen. Er verlor das Recht, ein Fahrzeug zu halten. 

Flucht in den "Westen" - Neuanfang bei Zeiss Oberkochen 1955

Nach der Haftentlassung im März 1955 verließ Richard Stumpf jr. zeitnah noch im März über Westberlin die DDR und musste seine Frau und zwei Kinder zunächst zurücklassen. Als ehemaliger Zeiss-Mitarbeiter fand er, gemäß seines Werksausweises datiert vom 21.03.1955, Arbeit bei Carl Zeiss in Oberkochen / Baden-Württemberg, wo sich die berühmte Firma niedergelassen hatte. Zunächst konnte er Unterkunft in einem Männerwohnheim vor Ort finden.

Im Dezember 1955 konnte seine Ehefrau Elisabeth mit den zwei Kindern schließlich nachkommen. In Oberkochen baute sich die Familie allmählich eine neue Existenz auf, 4 weitere Kinder wurden geboren, dabei verstarb ein Mädchen bei der Geburt.

Stumpf qualifizierte sich 1960 zum IHK-Industrie-Meister. Anfang der 1960er Jahre wechselte er in den Bereich Relais-Rechenmaschinen und wurde damit Mitglied des Teams, das seinerzeit die EDV in Oberkochen aufbaute. Da die ersten Computer bei Zeiss von Konrad Zuse geliefert wurden (Zuse 22), lernte er den begnadeten Erfinder persönlich kennen. In der EDV-Abteilung blieb Stumpf bis zu seiner Pensionierung 1987/1988. Richard Stumpf war zeitlebens ein sozial umtriebiger Mensch. Er war Initiator und Leiter der katholischen Arbeitnehmerbewegung. Für seine Verdienste in der CDU-Oberkochen wurde er 1990 mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet. Viele Jahre war er ihr Vorsitzender gewesen. 2006 (79. jährig) konnte er zum 60. Gründungstag als Ehrenmitglied noch begrüßt werden.

In den Erinnerungen der Freunde und Verwandten verblieb die große Gastfreundschaft der Familie Stumpf im Silcherweg 13 in Oberkochen. Richard Stumpf hat in seiner neuen Heimat tiefe Spuren hinterlassen, jedoch ohne die Ereignisse des 17. Juni 1953 wäre diese Lebensgeschichte mit Widerstand, Haft, Gefängnis und Flucht nach Oberkochen zu Zeiss nie zustande gekommen. Nachdem Richard Stumpf ab Anfang der 1970er Jahre wieder in die DDR einreisen durfte, aber insbesondere auch nach der Wende 1990, hat er bei jedem Aufenthalt in Heiligenstadt nicht nur die Verwandtenbesuche gepflegt, sondern auch die Kontakte zu den alten Kollegen aus der MEWA gelebt. Hier sei beispielgebend Fritz Dellemann (*1929) aus Heiligenstadt erwähnt.

Rehabilitierung nach der deutschen Einheit 1990

Die Rehabilitierung seines Vaters Richard Stumpf sen. wurde von Richard Stumpfs Bruder Lothar Stumpf 1993 beim Bezirksgericht in Erfurt erreicht.

Auch Richard Stumpf jun. wurde durch Beschluss des Zweiten Senats für Rehabilitierungssachen am Bezirksgericht Erfurt, datiert vom 26. September 1991, vollständig rehabilitiert - das Urteil des Bezirksgerichts Erfurt vom 13.04.1954 zum Volksaufstand 1953 vollständig aufgehoben. Zugleich wurde mit der Rehabilitierung ein Anspruch auf soziale Ausgleichsleistungen erreicht. Das menschenrechtswidrige Urteil der DDR-Justiz aus dem Jahre 1954 zum Volksaufstand war damit für null und nichtig erklärt.

In der Rehabilitierungsentscheidung wird ausdrücklich erwähnt und darauf Bezug genommen, dass Richard Stumpf am 18.06.1953 seine Meinung zum System und zur Regierung der DDR frei und offen geäußert habe. Bei diesem Verhalten handelte es sich um die Wahrnehmung des politischen Grundrechts zur freien Meinungsäußerung, welches selbst nach Artikel 9, Absatz 1 der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 gegeben war. Es wurde also ein systembedingtes Unrecht in der Entscheidung von 1954 festgestellt und damit aufgehoben.

Zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes 1953 im Jahre 2003 wurde in der hiesigen Zeitung (TLZ) ein längeres Interview mit Richard Stumpf (damals schon 75-jährig) veröffentlicht.

Kurzbiographie

21.12.1927         geboren in Nürnberg

1931                    kam als Dreijähriger nach Heiligenstadt

1934-1942          Schulbesuch in Heiligenstadt (Knabenschule)

1942-1944          Lehre bei Zeiss in Heiligenstadt & Göttingen

1945                    Kriegsende und Entlassung aus der Marine

1946                    Eintritt in die CDU

1948                    aktiv bei der Errichtung des Heiligenstädter Dünkreuzes

18.06.1953         Stellungnahme zum Aufstand in der DDR als Vorsitzender der Betriebsgewerkschaftsleitung des
                            Kleinmetallwerkes in Heiligenstadt

1954–1955         Haft und anschließende Flucht über Westberlin in die Bundesrepublik

1955–1989         Facharbeiter, 1960 Meisterprüfung bei Zeiss in Oberkochen,
                             Mitglied des neu aufzubauenden EDV-Teams, persönlicher Kontakt zu Konrad Zuse

1955–2007         ehrenamtliches Engagement in der CDU-Oberkochen, Stadtausschuss, Seniorenunion

05.03.2007         gestorben in Oberkochen

Weitere Details zum Leben und Wirken Richard Stumpfs finden Sie auf herrenschmiede-heinevetter.de.

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(1) Sie war gegossen worden im Jahre 1497 von Meister Gerhardus de Wou van Kampen -  einem der berümtesten Glockengießer des Spätmittelaters - für die größten Kirchen und Dome in Osnabrück, Hamburg, Lüneburg, Erfurt, Braunschweig und viele andere schuf er prachtvolle Geläute, die leider zum Teil im Laufe der Jahrhunderte verloren gingen. Etwa 130 Glocken, die mit seinem Namen signiert sind, existieren heute noch. Die Gloriosa wurde direkt auf dem Erfurter Domberg gegossen.

Quellen

Richard Stumpf: Lebenserinnerungen zu den Vorgängen am 18. Juni 1953 und der anschließenden Haft. Manuskript, Maschinenschrift von 2003.

Anklageschrift/Urteil Bezirksgericht Erfurt, 19.03.1954 bzw. 13.04.1954.

Rehabilitierungsentscheidung des Zweiten Senats für Rehabilitierungssachen am Bezirksgericht Erfurt, vom 26. September 1991.


Heinevetter, Matthias: Das Heiligenstädter Dünkreuz. Cordier Satz & Druck, 1. Auflage 2003, Cordier Druck Medien, 2. Auflage 2023.

Lauerwald, Paul: Richard Stumpf (1892–1958) und sein Wirken auf dem Eichsfeld, in: EJb 26 (2018), S. 285-300.

Köckritz, Monika: Noch heute überaus dankbar für die Solidarität der Kollegen, in: Thüringer Landeszeitung 2003, genaues Datum nicht bekannt.

Siebert, Heinz: Das Eichsfeld unter dem Sowjetstern, Duderstadt 1992.

Richard Stumpf. Der CDU-Stadtverband trauert um sein Gründungs- und Ehrenmitglied, Schwäbische-Post, 12.03.2007, CDU-Stadtverband.


Serie »Oberkochen - Geschichte, Landschaft, Alltag« Richard Stumpf (1928–2007). Wie die Familie Stumpf nach Oberkochen kam. Bericht 674.
www.heimatverein-oberkochen.de/berichte/bericht674.htm.[Seitenaufruf am 13.06.2023].

Die Verbindung zur Fam. Rhode-Stumpf in Heiligenstadt/Oberkochen-Richard Stumpf sen. & jun. [Seitenaufruf am 13.06.2023].

CDU-Kreisverband Ostalb - 2006 - Festakt „60 Jahre CDU – Oberkochen“ (cdu-ostalb.de) [Seitenaufruf am 13.06.2023].

 

Archive

Familienarchiv Heinevetter, Heiligenstadt: u.a. CDU-Mitgliedsausweis von 1946, Ahnentafeln.

Familienarchiv Stumpf, Angelika Vogelsang, Oberkochen.

Bilder - ebenda 


Matthias Heinevetter, Heiligenstadt in Zusammenarbeit Familie Stumpf sowie Peter Anhalt, Steinbach (Vors. VEH e.V.)